Foto: Andi Weiland

Jugend von heute ist hochsolidarisch

Im Gespräch mit Anna Grebe

Hirschberg: „Die Jugend ist auch nicht mehr das, was sie mal war“ – mit Blick auf die Zahlen des Freiwilligensurveys scheint das zu stimmen: In den letzten 20 Jahren ist der Anteil freiwillig engagierter Personen in der Altersgruppe von 14 bis 29 Jahre um 9 % gestiegen (1999: 33% | 2019: 42%). Haben Sie eine Erklärung, warum sich mehr Jugendlich freiwillig engagieren als früher?

Grebe: Jugendliche haben sich schon immer ehrenamtlich engagiert, ohne dies explizit als „Ehrenamt“ zu deklarieren. Die Übernahme von Aufgaben im Sportverein, die Organisation von Aktivitäten in der Kirchengemeinde, die  Freizeitgestaltung im Jugendverband – diese Engagementformen existieren schon sehr lange und sind zum Beispiel in ländlichen Regionen fester Bestandteil des Soziallebens von Jung und Alt. Seit 1999 hat sich die Zivilgesellschaft allerdings auch immer weiter ausdifferenziert, sodass neue Möglichkeiten für junge Menschen entstanden sind, sich für ihre Mitmenschen, für Umwelt und Natur, für Demokratie und Teilhabe einzusetzen, beispielsweise durch das Internet und seine Vernetzungs- und Aktivismusmöglichkeiten. Insofern muss man die Zahlen etwas differenzierter betrachten, kann aber zusammenfassend sagen: Die Jugend von heute ist hochsolidarisch und alles andere als auf sich selbst bezogen.

Im kirchlichen oder religiösen Bereich engagieren sich rund 3,2 Millionen Menschen, ohne dass sich signifikante Unterschiede zwischen den Altersgruppen zeigen – und das Engagement von jungen Menschen in diesem Sektor ist nach wie vor hoch. Ist Kirche also ein attraktives Feld für freiwilliges Engagement von Jugendlichen und Erwachsenen und warum?

Das Engagement junger Menschen in kirchlichen Zusammenhängen ist nicht zwingend deshalb besonders hoch, weil Kirche als Institution attraktiv ist. Vielmehr sind es die lebensweltlich ausgerichteten Formen der kirchlichen Jugendarbeit, an die Jugendliche gut andocken können, insbesondere die der katholischen Jugendverbandsarbeit. Hier bestimmen die Mitglieder selbst, mit welchen Themen sie sich beschäftigen, wie sie Solidarität und Nächstenliebe leben wollen und nicht zuletzt, wie sie mit G*tt in Beziehung treten können. Durch das hohe Maß an demokratischer Selbstorganisation erleben junge Menschen, dass es sich lohnt, sich für andere einzusetzen. Von Vorteil ist hier auch übrigens der weltkirchliche Rahmen: Durch internationale Partnerschaften und die Zusammenarbeit mit den Hilfswerken erfahren junge Menschen in der Kirche hautnah, dass ihr Einsatz sich auch auf das Leben von Menschen im globalen Süden auswirkt, z.B. durch die Forderung nach dem Stopp von Waffen-Exporten oder die Anerkennung von Arbeitnehmer*innenrechten im Kaffee- und Teeanbau.

Der Freiwilligensurvey stellt fest, dass politische Partizipation und Demokratieeinstellungen
mit freiwilligem Engagement zusammenhängen. Was muss geschehen, damit junge
Menschen sich freiwillig engagieren und so demokratische Selbstwirksamkeitserfahrungen
machen?

Ehrenamt braucht dringend mehr gesellschaftliche Anerkennung und auch politische Wertschätzung. Das beginnt beispielsweise mit Vergünstigungen im öffentlichen Nahverkehr durch die JULEICA (die Jugendleiter-Card), geht über vereinfachte Freistellungsverfahren von Schule, Uni und Job für die Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten und endet noch lange nicht bei Möglichkeiten der echten Mitgestaltung von Gesellschaft und Politik. Wenn junge  Menschen die Erfahrung machen, dass ihr Engagement einen Unterschied macht und sich z. B. dadurch etwas in ihrem und im Leben anderer Menschen verbessert, dann wirkt sich das positiv auf ihr Verhältnis zur Demokratie aus. Wenn aber zum Beispiel benachteiligten jungen Menschen das Engagement schon von vorneherein verunmöglicht wird, weil die Rahmenbedingungen dafür nicht zu ihrer Lebensrealität passen, dann verringert das auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie Partizipation als etwas Positives erleben.

Wir erleben gerade eine Krise der Institution Kirche, die viele Menschen an der Glaubwürdigkeit der Institution zweifeln lässt. Was muss die Kirche tun, damit sich weiterhin junge Menschen engagieren?

Junge Menschen haben sehr sensible Antennen dafür, wer sie und ihre Perspektive ernst nimmt und wer nicht. Gleichsam erleben sie, dass ihre lebensweltliche Erfahrung von Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und demokratischer Mitbestimmung und die Haltung von Kirche als Institution immer weiter auseinanderdriften. Sie fragen sich mit zunehmendem Alter, ob und wie sie diese Divergenz – häufig auch bezüglich ihrer eigenen Identität und Lebensweise – aushalten können und sich einfach weiterhin in einer Kirche engagieren können, die ihnen immer fremder wird. Kirche muss deshalb zum einen Kindern und Jugendlichen eine besonders hohe Gestaltungsmacht im alltäglichen Gemeindeleben einräumen und es ernst damit meinen, ihre Ideen umsetzen und ihre Sicht der Dinge aufnehmen. Dafür braucht Jugend zum Beispiel Zugang zu Räumlichkeiten in der Kirchengemeinde, Redeund Antragsrecht in den Pfarrgemeinderäten und auch die Solidarität der erwachsenen Gemeindemitglieder, um sich auszuprobieren und auch Fehler zu machen. Zum anderen muss Kirche insgesamt als Organisation echte Reformen anstreben, wie sie gerade der Synodale Weg aufzeigt. Und zwar schneller als geplant und mit mehr Ernsthaftigkeit. Es geht um nicht weniger als ihre Glaubwürdigkeit.

Ein weiterer Faktor für freiwilliges Engagement ist der Zugang zu Bildung – gerade auch, was das Thema „Digitalisierung“ betrifft. Wo sehen Sie hier Chancen und Herausforderungen?

Auch wenn die JIM-Mediennutzungsstudie 2020 zeigt, dass unter 12- bis 19-Jährigen praktisch eine digitale Vollabdeckung herrscht, da 98% über ein Smartphone verfügen, so trügen diese Zahlen. Allein die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass viele Kinder und Jugendliche keinen Zugang zu einem eigenen Laptop oder Desktop-PC haben und so schon im Bereich formaler Bildung keine Chancen auf Teilhabe hatten und haben. Jedoch geht es weder bei schulischer Bildung noch bei ehrenamtlichem Engagement um das Endgerät allein – es bedarf auch bestimmter Kompetenzen, um sich gut und sicher im Netz zu bewegen, Apps und Programme sinnvoll zu nutzen und eine kritische Konsumentin netzbasierter Inhalte zu werden. Dafür brauchen wir mehr attraktive und angemessen ausgestattete Angebote digitaler Bildung und einen unbürokratischen Einsatz von Fördermitteln in diesem Bereich. Ein Digitalpakt Jugendarbeit und vielleicht noch viel wichtiger: ein Digitalpakt Jugendsozialarbeit kann benachteiligte junge Menschen dabei unterstützen, sich digitale Lebens-, Arbeits- und  Engagementwelten positiv zu erschließen, statt wieder einmal von echter Teilhabe  ausgeschlossen zu werden.

Dr.in Anna Grebe arbeitet für Verbände, Stiftungen und Organisationen in den Bereichen Jugendarbeit, Politik und Kommunikation in Berlin. Sie ist ein hinzugewähltes Einzelmitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholik*innen (ZdK) und zurzeit bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit u. a. für die Kampagne „Eine #StarkeZukunft für junge Menschen“ verantwortlich.

Weitere Beiträge zum Thema „Engagement“  finden Sie in der Ausgabe 3-2021 des Hirschberg Magazins. Zur Bestellung

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