Blick auf die Anfänge – 100 Jahre Hirschberg-Programm

Der Inhalt dieses Beitrages entspricht der persönlichen Meinung des Autors.

1923 ist in der Weimarer Republik das aufwühlendste Jahr gewesen. Die Inflation galoppiert. Im August kostet ein Brot 69.000 Reichsmark, für das Anfang des Jahres nur 250 Mark zu bezahlen war. Wer Glück hat, bekommt den Lohn mit Entwertungsfaktor ausgezahlt. Statt Unterricht geht es für Schulkinder auf die Felder zur Kartoffelernte.

Seit Januar haben französische und belgische Truppen das Rheinland besetzt, um beim Kriegsverlierer die Reparationen einzutreiben. Zum passiven Widerstand hat daraufhin die Reichsregierung aufgerufen. Vier verschiedene Reichregierungen gibt es in diesem Jahr, zuletzt eine Minderheitsregierung unter Marx (Zentrum).

Streiks und Arbeiterproteste sind deutschlandweit an der Tagesordnung: Die Arbeitslosenquote erreicht 20%. aber eine kommunistische Oktober-Revolution wird abgesagt. Rechtsextreme werden höchst halbherzig von der Justiz verfolgt. In München wird im November der Putsch der völkischen Bewegung angeführt von Hitler und Ludendorff niedergeschlagen. Ende des Jahres kostet ein Brot 399.000.000.000 Reichsmark. Durch die Einführung der neuen Rentenmark gelingt es im nächsten Jahr, Gesellschaft und Republik zu stabilisieren.

Die Entstehung des Hirschberg-Programms

Vor diesem Hintergrund treffen sich vom Anfang August die Neudeutschen im bayrischen Hirschberg, um ein Programm für Neudeutschland zu beschließen. Die politischen Umstände spielen keine erkennbare Rolle. Aber die Bewegungsdynamik des Jahres tritt auch im ND überdeutlich zu Tage. Die inhaltlichen Vorarbeiten laufen unter der Federführung des Jesuiten Martin Manuwald seit dem Frühjahr 1923. Als Ziel definiert das Hirschbergprogramm schließlich die „Neue Lebensgestaltung in Christus“. Die Formel wird 1926 in der vierten Fassung des Hirschbergprogramms zentral verankert werden. Der Weg für den ND ist skizziert mit „Sinn und Wille zur gesunden Jugendbewegung“ sowie dem „ernsten Willen zum innerlich echten Katholischsein“.  Damit werden in „Neu-Deutschland“ Elemente aus zwei Richtungen zusammengeführt: Der attraktive Stil der Jugendbewegung soll für das katholische Milieu fruchtbar gemacht werden – allerdings in der unpolitischen Variante des „Wandervogel“ und ohne „katholische Forderungen“ preiszugeben. Exerzitien und Bildungsveranstaltungen verbinden die kirchliche Tradition mit der neuen Zeit und sollen dem Verband ein zukunftsorientiertes Image verleihen.

Ein zweistufiges Verfahren hatten sich der ND-Bundesleiter Johannes Zender, ein Religionslehrer aus Düsseldorf, und der Generalsekretär P. Ludwig Esch SJ einfallen lassen. Zunächst ein „Bundesthing“ und dann einen „Bundestag“. Der Begriff `Thing‘ stammt aus dem nordisch-germanischen Wortschatz und bezeichnet eine Versammlung, die Entscheidungen oder Gerichtsurteile fällt. Auf dem gut 150 Personen großen Rat auf Schloß Hirschberg sind die Verantwortlichen von Bund, den „Marken“ und „Gauen“ eingeladen sowie „auch einzelne sonstige tüchtige Kerle“. Ein Gau lässt sich gut mit einer ND-Region vergleichen. Mehrere Gaue bildeten eine Mark. Die Begrifflichkeiten wirken auf uns heute – sofort zugegeben – befremdlich.

Nach anderthalb Tagen der Beratung im kleinen Kreis treffen sich vom 4. bis 6. August 1.300 Neudeutsche für drei Tage zum Bundestag. Lakonisch notiert Zender in seinen Erinnerungen (publiziert 1949): „Jeder einzelne Satz in den vorgelegten Leitsätzen wurde erklärt, untersucht und besprochen. Die Annahme geschah erst nach reiflicher Überlegung. Der Geist Gottes war sicherlich mit uns. Es wurde auch viel gebetet. Jeder kam zu Wort und durfte seine Meinung sagen, ob Priester oder Junge. Nach Klärung aller Bedenken und Einwürfe wurde alles fast immer einstimmig angenommen.“

Einzelne erscheinen auf Schloß Hirschberg noch mit Schülermützen. Aber spätestens dort manifestieren sich Kräfte der Jugendbewegung, die eingefangen werden sollen. Mit dem Schlagwort einer „gesunden Jugendbewegung“ versucht die ND-Führung, sich abzugrenzen und für Klarheit zu sorgen. Gerade auch im eigenen Laden. Tatsächlich ist es im ND 1923 wesentlich vielstimmiger zugegangen, wie der Rundbrief der Bundesführung im September zum Hirschbergprogramm zwischen den Zeilen zeigt. „Wir sagten uns, in unserer Zeit ist so vieles ungesund und krank, dass nur schlichte einfache Natürlichkeit uns helfen kann. Diese Forderung schließt aus unsern Gruppen aus alle Modegiggerl und Poussierstengel, alle weichlich weiblichen Jungen. Wege zur Natürlichkeit sind vor allem Wandern – der das Wandern grundsätzlich ablehnt, gehört nicht zu Neudeutschland“. Damit knüpfen die Neudeutschen an Formen der bündischen Jugend an, gerade auch was die Bedeutung des „Auf Fahrt gehens“ angeht.

Noch drastischer die Aufforderung: „Lebt wohl, ihr Schlafmützen und Mehlsäcke, die ihr immer andere arbeiten lasst und selbst nur kritisiert, lebt wohl ihr Schmarotzer und geistigen Genießer, die ihr nur kommt, wenn etwas los ist. Neudeutschland gibt euch noch Bedenkzeit, und wenn ihr dann nicht wach geworden, lebt wohl! Drang und Leben verlangen wir. Jeder muss wenigstens innerlich mitarbeiten und beitragen zu einem feinen, gesunden Gruppenleben. Sonst soll er gehen.“

Mit dem Gedanken einer solchen Jugendbewegung verknüpft die Bundesführung die katholische Grundeinstellung. „Harmonie zwischen Natur und Übernatur ist das Ziel. Unser Katholizismus darf nichts Angeklebtes sein. Die Religion soll tief und echt unser ganzes Neudeutschtum durchdringen. Ein reiches Innenleben soll ein jeder in sich erstreben.“ In der Folge verlassen Tausende den ND. Unbestritten ist aber, dass das erste Hirschbergprogramm den Beginn einer Phase größerer Umbrüche im ND markiert. Je nach Sicht: Verwerfungen, oder auch Klärungen. Das passt zur Zeit von 1923.

Kontroversen um die Jugendbewegung im ND

Den „teilweise noch reichlich unklaren“ Entwurf zum Hirschbergprogramm 1923 begegnen Esch und Zender mit einer gewissen Reserve. „Auf der anderen Seite drängte alles zur Entscheidung“, erinnert sich Zender. Die Auseinandersetzungen im Bund radikalisieren sich, wie jugendbewegt sich der ND ausrichten sollte. Das zeigt sich auf dem nächsten Bundesthing auf der Burg Normannstein über die Jahreswende 23/24.

Zur Entscheidung kommt es auf dem nächsten Bundestag auf Normannstein im August 1924, ein Jahr nach dem ersten Hirschbergprogramm. Ein Krisentreffen zwischen den jugendbewegten ND’ern und der Bundesführung Esch und Zender zieht sich über einen Vormittag in den Nachmittag hinein. „Wir wollen den Quickborn-Menschen in Neudeutschland“, lautet die Kernforderung. Streitpunkte sind die Auswahl jugendbewegter Jungen, die Rolle der Geistlichen im ND und die Akzeptanz neudeutsche Mädchengruppen im Bund, wie es sie in Berlin schon gibt. Für Esch und Zender völlig inakzeptable Positionen.  Dort seien „sehr verkrampfte Ansichten“ geäußert worden, resümiert Zender, der andererseits auch den Idealismus bei den Wortführern registriert.

Sich im ND am wesentlich jugendbewegtere Quickborn zu orientieren, fordern vor allem die älteren Neudeutschen und die studentischen ND-Gruppen, insbesondere aus Nord- und Ostdeutschland. Abends berufen Zender und Esch einen außerordentlichen Bundesthing im Schulsaal ein. Nach kontroversen Debatten lehnen 20 der 26 Gaue die Forderungen ab. Daraufhin spaltet sich die Minderheit ab und gründet die „Normannsteiner“. Von 1923 bis 1925 verliert der Bund gut die Hälfte seiner Mitglieder. Dies sind vor allem die echt Jugendbewegten, die geistliche Bevormundung, verordnete Spiritualität und Ausgrenzung der Mädchen auch mit katholischer Jugendbewegung nicht in Einklang sehen. Sie schließen sich den Normannsteinern oder dem Quickborn an. Die Mädchen emanzipieren sich und gründen selbstbewusst den Heliand-Bund.

Andererseits wächst der ND nach diesen programmatischen Klärungsprozessen. Ab Mitte der zwanziger Jahre festigt sich das Bundesleben mit seinem eigenen Profil: Mit Knappenprüfung und Ritterversprechen, mit Musikwerkwochen, Zeitschriften und einer Romfahrt zu Ostern 1926 mit päpstlicher Privataudienz, als Großstadtbewegung und Teil der Liturgischen Bewegung.

Das Krisenjahr wird überstanden, hinterlässt aber deutliche Spuren. Zu einer echten Beschäftigung im ND mit den politischen Entwicklungen im Reich kommt es erst mit dem Ende der Weimarer Republik und dem NS-Regime.

Das Bild (Quelle: ND-Archiv) zeigt die Versammlung der ND*er auf dem Bundestag Normannstein. Stehend P. Martin Manuwald SJ.

Eine Antwort

  1. Sehr spannend. Danke.
    Und wie aktuell: Abspaltung wegen geistlicher Bevormundung und Ausgrenzung von Mädchen.
    Demnach ist der ND die Gemeinschaft der Konservativeren und dass scheint sich in Spuren bis heute gehalten zu haben ….
    Man kann die damalige Situation als Profilierung verstehen, die durch den anschließenden Zustrom an Mitgliedern als wichtiger Schritt angesehen werden kann.
    Man kann es aber auch als ein Scheitern einer offenen und liberalen christlichen Gemeinschaft sehen .

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