Mitten in der Nacht wachte er auf. Wieder einer dieser Träume, voller Rätsel. Beim letzten Mal war ihm klar geworden, dass Maria ein Kind erwartete, für das er sorgen soll. Nun sagt ihm der Traum, er solle sein Kind so schnell wie möglich nach Ägypten bringen. Warum – und wieso ausgerechnet nach Ägypten? Er dachte nach und dabei fiel ihm eine alte Geschichte ein, die er von seinem Vater Jakob gehört hatte. Dieser erzählte, da hätte es vor langer Zeit schon einmal einen Jakob gegeben. Der hatte 12 Söhne. Einer davon war Joseph, ein wunderliches Kind, sehr klug, aber auch ein bisschen hochmütig. Die Brüder hatten es schwer mit ihm gehabt. Manchmal reizte er sie bis zur Weißglut. Und als sie gemeinsam unterwegs waren, versuchten sie, voller Wut sich seiner zu entledigen und warfen ihn in einen Brunnen. Fast wäre der Brudermord geglückt. Aber er konnte mit Hilfe einer Karawane dem Tod entrinnen und kam – nach Ägypten! Dort machte er eine buchstäblich „traum“hafte Karriere. Warum? Weil er auf geniale Weise Träume deuten konnte und sich auch sonst als überaus tüchtiger Mitarbeiter und Berater des Pharao erwies.
Jetzt soll er also, seinem berühmten Namensvetter folgend, sich selbst auf den Wege nach Ägypten machen, zu Fuß und mit einem Esel für Frau und Kind. Das Tier war ihm seit jener Nacht geblieben, als der Junge in einem Stall zur Welt kam. Ein treuer Helfer. Aber Ägypten ist weit und er, Joseph, ist nicht mehr der Jüngste? Wäre es denn nicht möglich, einen kürzeren Weg zu nehmen, irgendwo außerhalb der Grenzen des Landes Juda, und sich dort zu verstecken, bis die von Herodes drohende Gefahr vorüber ginge? Klar wäre das möglich, aber irgendetwas war mit Ägypten, das ihn geradezu magisch anzog. Ja, da war die Geschichte des Patriarchen Jakob und seines Sohnes Joseph. Aber da gab es noch eine andere Geschichte, die er seit seiner Kindheit gehört hatte. Das Volk Israel war lange in Ägypten gewesen, hatte harten Frondienst geleistet und war dann nach mühsamer und gefahrvoller Wanderung, am Ende mitten durchs Schilfmeer, mit Gottes Hilfe in das verheißene Land gelangt.
Sollte sein Sohn Jesus vielleicht noch einmal diesen Weg nehmen? Aber warum? Gab es vielleicht einen Zusammenhang zwischen dem Anführer des Volkes Israel von damals, Mose, und seinem Sohn? Je länger er darüber grübelte, umso mehr ergriff ihn aber wieder die Müdigkeit und der Schlaf übermannte ihn. Am nächsten Morgen machte er sich mit Frau und Kind auf in das geheimnisvolle Land Ägypten. Ein Land des Reichtums. Aber auch ein Land, so erzählte man sich, in dem zum ersten Mal der eine Gott angebetet worden war, schon vor langer Zeit. Mose hatte diesen Glauben übernommen. Es musste wohl seinen Sinn haben, genau dorthin zu ziehen und nach der Zeit der Gefahr wieder über Jerusalem ins geliebte Galiläa zurückzukehren. Darauf freute er sich schon. Er würde seinen Sohn in der Zeit, die ihm noch blieb, zu einem tüchtigen Mann erziehen und ihn in das Bauhandwerk einführen, das er selbst ausübte. Da gab es viel Arbeit in Nazareth und auch im nahen Sepphoris. Seine älteren Söhne würden mit anpacken und so würden sie zusammen gutes Geld verdienen, das Unternehmen weiter entwickeln und endlich ihr Haus renovieren.
Und er begann wieder zu träumen.