Die Kirche „Maria, Hilfe der Christen“ in der Kehl stand kurz vor dem Aus. Mehrere Anläufe, das Kirchengebäude aus den 1960er-Jahren zu renovieren, waren fehlgeschlagen – vor allem aus finanziellen Gründen. Eine Spendensammelaktion 2009 machte deutlich, dass die Gemeinde ihre Kirche nicht aufgeben wollte. Im Sommer 2010 erteilte das Erzbischöfliche Ordinariat in Freiburg die Genehmigung für eine schlichte Turm- und Innenraumsanierung. Erst im Spätherbst 2010 kam durch persönliche Kontakte der Offenburger Graffiti-Künstler Stefan Strumbel ins Spiel. Er zeigte sich begeistert vom leergeräumten Kirchenraum und davon, diesen künstlerisch auszugestalten. Nach anfänglicher Skepsis stimmten der Pfarrgemeinderat, das Ordinariat und das Erzbischöfliche Bauamt den Plänen zu. Heute ist die Kirche eine Attraktion – dank der wirksam eingesetzten künstlerischen Akzente. Ein Interview mit dem damaligen Pfarrer Thomas Braunstein.
Die 1961 erbaute katholische Kirche „Maria – Hilfe der Christen“ in Kehl-Goldscheuer (Schwarzwald) wurde im Jahr 2011 von dem bekannten Street-Art-Künstler Stefan Strumbel aus Offenburg ausgestaltet. Eine mehrere Meter große Madonnendarstellung mit der örtlichen Tracht der sogenannten „Maschenkappe“ findet sich seitdem als Graffiti-Malerei auf der Orgelempore. Mit dem ortsansässigen Pfarrer Thomas Braunstein sprachen wir über die Umgestaltung.
Wie kam es zum ersten Kontakt zu Stefan Strumbel und der Idee zur Umgestaltung der Kirche Maria – Hilfe der Christen in Kehl-Goldscheuer?
Ein Mitarbeiter des Jugendkellers in Kehl St. Johannes Nepomuk ist mit Stefan Strumbel gut befreundet. Der Künstler kam mit der Frage auf mich zu: „Was kann und darf ich mit einem Altar künstlerisch machen?“ Im Internet hatte er sich einen kleinen hölzernen Barockaltartisch gekauft.
Wie hat sich die Gemeinde mit der Idee auseinandergesetzt? Nur architektonisch? Auch spirituell? Hat sich die Gemeinde grundsätzlich mit den Einflüssen durch die Popkultur in ihrer Kirche auseinandergesetzt?
Stefan Strumbel hat im oben angedeuteten Gespräch seinen Traum geäußert, dass er einmal eine Kirche künstlerisch mitgestalten würde. Daran habe ich mich dann erinnert und als es um die Renovierung der Kirche ging, war dann die Idee, dass auf der Empore hinten eine große Fläche wäre, um dort ein Graffitibild anzubringen. Seine Idee war dann gleich eine große Madonna. Die Kirche trägt den Titel „Maria Hilfe der Christenheit“. Mehr war nicht angedacht, d.h. die Gemeinde hat sich hier nicht konzeptionell mit dem Thema Popkultur auseinandergesetzt.
Gab es Konflikte? Meinungsführerschaft? Protestaktionen? konkrete Gegenvorschläge zur Umgestaltung?
Bei jeder Umgestaltung einer Kirche gibt es Konflikte. Natürlich hat es eine große Überzeugungskraft gebraucht. Zum einen war der damalige Pfarrgemeinderat erstmal sehr skeptisch. Allein die Frage, was kann angesichts des wirklich unansehnlichen Zustandes der Kirche überhaupt noch schlimmer werden?, hat letztlich zu einem völligen Meinungsumschwung beigetragen. Aus der Bevölkerung und der Gemeinde gab es Briefe oder mündliche ablehnende Kommentare. Alternativen hatten wir keine ausgedacht.
Haben sich die Kirchengemeinde und Stefan Strumbel wechselseitig beeinflusst? Inwiefern?
Ja, sehr. Er war sehr offen über unsere Ideen und für unsere Meinung hat sich immer kompromissbereit gezeigt oder wir haben uns von ihm überzeugen lassen. Viele Dinge wurden so anders als gedacht, d.h. prozessorientiert entschieden.
Gab es aufgrund der Neugestaltung Wanderungsbewegungen zu/von Nachbargemeinden? Steht die Gemeinde heute geschlossen hinter der Neugestaltung?
Heute steht die Gemeinde voll hinter der Umgestaltung. Es gab weltweit Aufmerksamkeit für die Kirche, d.h. von FAZ (drei Seiten-Artikel), Spiegelonline, ZDF, SWR, New York Times, BBC und vielen anderen Medien wurde über die Kirche berichtet. Es entstand ein unglaublicher Hype. Im Jahr der Wiedereröffnung kamen z.B. über 100 Gruppen, die eine Führung wollten. Aus den Nachbargemeinden kamen Menschen und feierten den Gottesdienst mit.
Hat die Popkultur der Kirche nur den Kirchenraum verändert, oder auch die Gemeinde? Ist die Spiritualität der Gemeinde poppiger geworden?
Absolut! Die Gemeinde und die Menschen identifizieren sich wieder gerne mit dem Kirchengebäude und es gibt dort wieder Tauffeiern, Hochzeiten, Konzerte oder andere Feiern. Poppiger ist sie dadurch nicht geworden. Es gibt jedoch andere Gottesdienstformate.
Hat die Neugestaltung Ihre eigene Spiritualität beeinflusst?
In meinen Augen deutlich, weil sich die Menschen im Gottesdienstraum wieder beheimatet und somit angenommen fühlen. Der Raum öffnet und zeigt jetzt durch seine Symbolkraft, z.B. in den barockgolden umrahmten Kreuzwegstationen die Schätze unseres Glaubens und der Rituale.
Gab es nach der Neugestaltung mehr bzw. andere Gottesdienstbesucher als vorher? Vor der Renovierung kamen ca. 20 Personen zum Gottesdienst und danach waren es im Schnitt zwischen 80 und 100. Wie es aktuell aussieht (nach Corona) kann ich nicht sagen, da ich die Gemeinde gewechselt habe.
Wie hat die internationale Presse die Umgestaltung bewertet und kommentiert?
Es gab eine sehr große Aufmerksamkeit und großes Staunen, dass in einem katholischen Kirchenraum bzw. in der katholischen Kirche so etwas möglich ist. Oft wurde gefragt: Das ist doch eine evangelische Kirche?, weil nur ihr so etwas zugetraut wurde. Natürlich sind alle katholischen Zeichen sichtbar, aber viele kennen eben den Unterschied nicht (mehr).
Thomas Braunstein, 60 Jahre, bis Oktober 2018 Pfarrer in der Seelsorgeeinheit Kehl und seitdem Pfarrer in der Seelsorgeeinheit Waldkirch.
Artikel aus der Hirschberg-Ausgabe 1-2025